Prävention, Ressourcenstärkung und Stressbewältigung

Prof. Dr. Gerald Hüther, Zentralstelle für neurobiologische Präventions­forschung, Universität Göttingen:

Wenn die Prognosen der WHO valide sind - und es gibt keinen Grund, an der prognostizierten dramatischen Zunahme stressbedingter Erkrankungen in den hoch entwickelten Industriestaaten zu zweifeln, so werden in Zukunft kaum bewältigbare Kosten auf die medizinischen Versorgungssysteme und damit auf die Krankenkassen dieser Länder zukommen. Absehbar ist nicht nur eine enorme Zunahme stressbedingter somatischer Erkrankungen (vor allem die durch muskuläre Verspannungen verursachten langfristigen Schäden des Halte- und Bewegungsapparates und die durch permanent erhöhten Sympathikotonus verursachten cardiovaskulären Störungen). Es ist auch mit einem dramatischen Anstieg stress- und angstbedingter psychischer Erkrankungen zu rechnen (Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen, Zwangsstörungen, Burn-out-Syndrome etc.).

Nur vordergründig scheint diese Entwicklung durch eine zunehmende berufliche Belastung der arbeitenden Bevöl­kerung bedingt zu sein. Wesentlich bedeutsamer dürfte eine ständig abnehmende Fähigkeit der Menschen in den hoch entwickelten Industriestaaten sein, mit psychischen Belastungen umzugehen. Zu viele Menschen leiden an Stress, weil sie über zu geringe Ressourcen zur Stressbe­wältigung verfügen. Hierzu zählt eine unzureichende Fähigkeit zur Selbstregulation und zur Selbstreflexion, zu schwach entwickelte Kontrollüberzeugungen und Selbst­wirksamkeitskonzepte, zu gering ausgebildete Frustra­tionstoleranz und Flexibilität. Bei vielen sind die Konflikt­lösungskompetenz, die Planungs- und Handlungskompetenz und die Fähigkeit zur konstruktiven Beziehungsgestaltung nur unzureichend entwickelt. Diese Menschen erleben sich allzu leicht als ohnmächtig, als ausgeliefert und fremdbestimmt.

Dieser Mangel an eigenen Ressourcen zur Stressbewältigung wird noch enorm verstärkt durch einen hohen Erwartungsdruck, durch eigene unrealistische Vorstellungen und durch einen Mangel an kohärenten, Sinn-stiftenden und Halt-bietenden Orientierungen

Diese Defizite sind nicht erst im oder durch das Berufs­leben entstanden. Sie sind eine zwangsläufige Folge früher, oft schon während der Kindheit, spätestens aber in der Schule und während der Ausbildung gemachter und im Berufsleben weiter bestärkter Erfahrungen eigener Unzulänglichkeit, unzureichender psychosozialer Unterstützung und fehlender Orientierungen. Mit anderen Worten heißt das: In den hoch entwickelten Industriestaaten gibt es für zu viele Menschen während der Phase der Hirnent­wicklung zu wenige stärkende und stark machende und dafür zu viele schwächende und schwach machende Erfahrungen.

Wie die neueren Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, werden Erfahrungen immer gleichzeitig auf der kognitiven, auf der emotionalen und auf der körperlichen ebene in Form entsprechender Denk-, Gefühls- und körperlicher Reaktionsmuster verankert und aneinander gekoppelt (»embodiment«).

Aus diesem Grund sind alle späteren Versuche, die Stressbewältigungsfähigkeit von Menschen durch kognitive Fortbildungsprogramme zu verbessern, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, wenn dabei nicht gleichzeitig auch die emotionalen (Gefühle, Einstellungen, Haltungen) und die körperlichen ebenen (Bewegung, Körperbeherrschung, Körperhaltung) mit einbezogen werden. Die Menschen müssen die neuen Erfahrungen (von Selbstwirksamkeit, Gestaltungskraft und –Lust, von Kompetenz und Selbst­reflexion) am eigenen Körper und unter Aktivierung ihrer emotionalen Zentren machen, damit sie nachhaltig in Form entsprechender neuronaler Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn verankert werden können. Nur so lässt sich ihre Resilienz, also ihre Stressbewältigungsfähigkeit, auch noch im Erwachsenenalter stärken.

Ein Verfahren, das sich hierfür außerordentlich gut eignet und das sich bereits seit Jahrzehnten im praktischen Einsatz bewährt hat, ist die Feldenkrais-Methode.
(Geleitwort von Prof. Dr. Gerald Hüther aus: Gesundheitsförderung mit der Feldenkrais-Methode, Feldenkrais-Verband Deutschland, Mai 2008, 3. Auflage)